In unserem Blogpost Evaluation eines Praxisinformationssystems haben wir bereits das Vorgehen zur Auswahl einer Praxissoftware anhand unseres 5-Schritte-Modells - von der Evaluation bis zur Einführung – erläutert.
In Ergänzung dazu möchten wir in diesem Beitrag den Fokus auf die Bewertung der Benutzerfreundlichkeit von Praxissoftware legen. Benutzerfreundlichkeit erleichtert nicht nur die Einführung einer neuen Praxissoftware, sondern entscheidet insbesondere langfristig über die Leistungsfähigkeit der Software im täglichen Betrieb.
Fehlende Nutzerzentrierung hemmt Freude am Einsatz von Software
Klemmt es an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, kann Informations-Technologie (IT) schnell zu Frustration führen. Das belegt eine Beobachtungsstudie an 15‘505 Beschäftigten im Gesundheitswesen aus Michigan (USA) (Tawfik et al. 2021). Ein Drittel aller Gesundheitsfachpersonen erlebt an 3-5 Tagen pro Woche Frustration im Umgang mit IT, was langfristig zu emotionaler Erschöpfung führen kann.
Warum fehlende Nutzerzentrierung die Freude am Einsatz von Software im Gesundheitswesen so häufig hemmt, und nicht selten sogar Mehrarbeit verursacht, haben wir im 3. Teil, User Experience unserer Blog-Serie Status Quo Software im Gesundheitswesen zusammengefasst.
Benutzerfreundlichkeit als grundlegendes Qualitätsmerkmal
Zunächst eine Begriffsklärung. Was bedeutet Benutzerfreundlichkeit? Benutzerfreundlichkeit (Usability) bedeutet, dass Software „menschenfreundlich“, d.h. einfach und intuitiv zu bedienen ist und alltägliche Aufgaben mit Leichtigkeit erledigt werden können. Ein wesentliches Qualitätsmerkmal also.
Je besser eine Praxissoftware also auf die Anforderungen des Alltags zugeschnitten ist und je mehr es sich an den Bedürfnissen der Benutzer orientiert, umso grösser ist auch der damit assoziierte Nutzen.
Praxisziele effektiv, effizient und mit hoher Zufriedenheit erreichen
Benutzerfreundlichkeit ist in der ISO 9241-11 Norm definiert als "das Ausmass, in dem eine Software von Benutzern verwendet werden kann, um Ziele mit Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit zu erreichen" (Herczeg 2018 s. Abb.1).
Eine Praxissoftware (Produkt) weist hohe Benutzerfreundlichkeit auf (Ziele = Ergebnis der Interaktion), wenn die Benutzer (z.B. Arzt, MPA) die Ziele (Dokumentation, Kommunikation, Interaktion) vollständig (Effektivität), mit geringem Aufwand (Effizienz) und gutem Ergebnis (Zufriedenheit) erreichen.
Benutzerfreundlichkeit ist zudem kontextabhängig: Sie wird beeinflusst vom Setting, in dem die Benutzer arbeiten (Einzelpraxis, Gruppen- oder Gemeinschaftspraxis) und durch die Art verwendeter Endgeräte (Desktop-, Mobile-Devices), die Umgebung (Behandlungszimmer, Anmeldung), die Aufgabe (z.B. Dokumentation, Labor, Terminierung, Abrechnung) und die Eigenschaften der Benutzer (Motivation, IT-Erfahrung) usw.
Beteiligung aller relevanten Benutzergruppen an der Evaluation
Der Einfluss der Kontextfaktoren auf die Benutzerfreundlichkeit von Software verdeutlicht, dass das Benutzererlebnis stark von einer Übereinstimmung zwischen den Merkmalen der Schnittstelle (User Interface Design) und den jeweiligen Merkmalen der Benutzer im Anwendungskontext abhängt (Mensch-Maschine-Interaktion).
Das hat eine wichtige Implikation für die Anwendung. Bedingt durch die Kontextfaktoren kann das Nutzererlebnis für verschiedene Nutzergruppen bei ein und derselben Praxissoftware sehr unterschiedlich ausfallen. Die Ärzt:in kann in der Behandlungssituation grösste Zufriedenheit erlangen, während die Praxismitarbeitenden Unzufriedenheit beim Erreichen der administrativen Ziele erleben. Deshalb sollten möglichst alle Benutzergruppen am Evaluationsprozess beteiligt sein.
Konkrete Umsetzungsvorschläge zur Bewertung der Benutzerfreundlichkeit
Bei der Evaluation sollten die beteiligten Benutzergruppen potenzielle Praxissoftware-Angebote anhand von Entscheidungskriterien bewerten. Typische Bewertungskriterien für die Bewertung der Benutzerfreundlichkeit stammen von Nielsen (2003). Sie sind generisch und berücksichtigen die wesentlichen Grundsätze einer guten Usability.
- Sichtbarkeit des Systemstatus: Die Praxissoftware gibt den Benutzern Rückmeldung und informiert über den aktuellen Stand der Dinge.
- Übereinstimmung zwischen System und realer Welt: Die Praxissoftware „spricht die Sprache der Benutzer“ und verwendet nicht mehr systemorientierte Begriffe als notwendig. Es folgt den „Konventionen des Praxisalltags“ - Abläufe erscheinen in einer natürlichen und logischen Reihenfolge.
- Benutzerkontrolle und Freiheit: Fehler lassen sich einfach rückgängig machen. Ein erwünschter Ausgangszustand kann schnell wieder hergestellt werden.
- Konsistenz und Standards: Die Praxissoftware entspricht fachlichen Standards und bildet diese eindeutig ab. Benutzern ist klar, was sich hinter Bedienfunktionen verbirgt.
- Wiedererkennen statt Abrufen: Objekte, Aktionen und Optionen, die im Alltag routinemäßig verwendet werden, sind gut sichtbar, schnell zu finden und effizient auszuführen. Wiederkehrende Abläufe können durch Workflows unterstützt werden.
- Flexibilität und Effizienz der Nutzung: „Abkürzungen“ z.B. durch Tastenkombinationen beschleunigen die Interaktion. Spezifische Ansichten vereinfachen die Arbeit.
- Ästhetisches und minimalistisches Design: Ansichten und Dialoge enthalten keine irrelevanten Informationen, die die relative Sichtbarkeit wichtiger Informationen mindern.
- Fehler zu erkennen, diagnostizieren und beheben: Die Praxissoftware gibt eindeutige Fehlermeldungen und Warnhinweise in einfacher Sprache (ohne Codes) aus. Sie benennen das Problem und implizieren die Lösung.
- Fehlervermeidung: Ein optimales User Interface Design verhindert bestmöglich, dass Fehler überhaupt auftreten.
- Hilfe und Dokumentation: Eine Hilfe und Dokumentation ist verfügbar, konzentrieret sich auf die Aufgaben der Benutzer und listet konkrete Schritte zur Lösung auf.
Erweitert werden können diese durch spezifische Akzeptanzkriterien, die speziell für den Praxisbetrieb wichtig sind. Sie können einfach mithilfe des vorgestellten Usability Frameworks (vgl. Abb. 1) ermittelt werden. Gehe hierzu spezifische Anforderungen des Alltags durch. Definiere den jeweiligen Anwendungskontext und überlege dir, wer, welche Aufgaben mit Hilfe der Praxissoftware erledigen muss, und mit welchem Ziel.
Eine Liste spezifischer Bewertungskriterien stellen wir Ärzt:innen in der Schweiz auf Anfrage im Rahmen unseres Beratungsauftrags der FMH Services zur Verfügung.
Hinter den Vorhang schauen und testen
Selbst vorgenommen werden kann die Bewertung der Benutzerfreundlichkeit der Praxissoftware zum Beispiel im Rahmen einer Herstellerpräsentation. Bereite dich deshalb gut auf den Termin vor und lenke den Fokus während der Präsentation auf deine Bedürfnisse. Lasse dir konkrete Abläufe und Anwendungsszenarien in der Software demonstrieren.
Setze Prioritäten bei der Bewertung. Von „Must have“ zu „Nice to have“. Bewerten kannst du deine Kriterien z.B. auf einer Skala von 0-10. Fordere auch deine Mitarbeiter auf, Fragen zu stellen und die für sie relevanten Kriterien zu prüfen. Die Ergebnisse können anschliessend konsolidiert und entsprechend der Nutzergruppen und Bedürfnisse gewichtet werden.
Weiter empfehlen wir dir das selbständige Testen mit einer Demo-Version. Praktisch jede kommerzielle Software hat heute ein Demonstrations- oder Evaluationspaket. Frage kritisch nach, wenn dies bei einem Praxissoftware Anbieter nicht möglich sein sollte.
Unterstützung durch healthinal
Falls du dich unsicher fühlst und dich bei der Praxissoftware-Evaluation von uns unterstützen lassen möchtest, stehen wir dir gerne mit unserem bewährten Praxissoftware-Evaluationsprozess, einem entsprechenden Methodenkoffer und weitreichender Erfahrung zur Verfügung. Gerne unterstützen wir dich in der Projektierung deiner IT-Infrastruktur (Hardware und Software) mit (Re-)Evaluation, Ablösung, Inbetriebnahme und Wartung neuer Software.
Kontaktieren uns telefonisch oder per E-Mail. Die wichtigsten Fragen können meist schon in einem 1-stündigen Beratungsgespräch geklärt werden. Anschliessend kann gemeinsam entschieden werden, ob eine weitere Unterstützung unsererseits notwendig ist.
Viel Erfolg bei der Evaluation der Benutzerfreundlichkeit deiner Praxissoftware!
Kontakt
Jakob Tiebel
+41 55 534 68 11
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